Von Erwin Denninghaus,
EBU-Kommission für Rehabilitation, berufliche Qualifizierung und Beschäftigung
Einleitung
Die Kommission für Rehabilitation, berufliche Qualifizierung und Beschäftigung der Europäischen Blindenunion (EBU) wurde u. a. mit der Aufgabe betraut, Empfehlungen zur Selbstständigkeit Blinder und Sehbehinderter in Europa auszuarbeiten. Unter den nationalen Mitgliederorganisationen wurde eine Umfrage durchgeführt, die als Grundlage dieser Empfehlungen dient. Dies hat uns sehr beim Zusammentragen von Daten und Informationen zum Thema allgemein geholfen.
Bei der Durchführung der Umfrage gab es einige Probleme. Zunächst muss berücksichtigt werden, dass es unterschiedliche Definitionen der Begriffe „Behinderung“ und “Blindheit und Sehbehinderung” sowie der Arten von sozialen Sicherungssystemen gibt, und auch die Richtlinien zur Beschäftigung und die Wirtschaftslage unterscheiden sich deutlich von einem europäischen Land zum andern. Daher müssen die Ergebnisse dieser Umfrage vor dem jeweils relevanten Hintergrund mit Vorsicht interpretiert werden. Zudem wurde der Wert der Informationen dadurch eingeschränkt, dass nicht alle Mitglieder den Fragebogen eingereicht haben. Und schließlich muss auch berücksichtigt werden, dass es keine systematische Erfassung zur Selbstständigkeit Blinder und oder Sehbehinderter in Europa gibt. Daher konnten viele Organisationen auch nur für deren Mitglieder sprechen, und so kann nur geschätzt werden, wie viele blinde und sehbehinderte Menschen in den jeweiligen Ländern selbstständig tätig sind.
Ich möchte den Blinden- und Sehbehindertenorganisationen aus Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Montenegro, Norwegen, Russland, Schweden, der Schweiz, Spanien und der Tschechischen Republik meinen großen Dank dafür aussprechen, dass Sie durch das Ausfüllen der Fragebögen im Sommer 2010 wesentlich zur Arbeit der Kommission für Rehabilitation, berufliche Qualifizierung und Beschäftigung beigetragen haben.
Im nächsten Abschnitt werde ich die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen.
Ergebnisse
Die detailliertesten Angaben kamen aus Großbritannien. Auch hier gibt es kein System zur Erfassung von blinden und sehbehinderten Selbstständigen, jedoch war es mittels Durchführung zweier relativ breit angelegter Studien möglich, ziemlich verlässliche und aussagekräftige Daten zu erhalten (die Studie Network-1000 und die Studie “Labour Market Experiences of People with Seeing Difficulties – Erfahrungen von Menschen mit Seheinschränkungen am Arbeitsmarkt” des RNIB).
Ähnlich zuverlässig sind auch die Daten aus Bulgarien. Dort werden die Umfragen jährlich in den regionalen Zweigstellen der Organisation durchgeführt, die nicht nur die Gesamtanzahl von blinden und sehbehinderten selbstständigen Unternehmern angeben konnte, sondern auch eine Einteilung in vollblinde und sehbehinderte Selbstständige vornahm. Außerdem konnte ermittelt werden, wie viele der Unternehmer geburtsblind sind.
Sowohl Deutschland (1000) und Estland (15) machen relativ genaue Angaben über die Anzahl blinder und sehbehinderter Masseure. Darüber hinaus gibt es nur sehr wenige Angaben. Insbesondere in Deutschland ist die geschätzte Zahl selbstständig tätiger Blinder und Sehbehinderter weitaus niedriger als der tatsächliche Wert. Finnland ist das Land, welches die höchste Gesamtanzahl blinder und sehbehinderter Selbstständiger angegeben hat. Außerdem wurde eine Liste von 54 unterschiedlichen Berufskategorien genannt, in denen Blinde und Sehbehinderte beschäftigt sind und auch einen Selbstständigenstatus aufweisen.
Irland und die Tschechische Republik weisen dagegen nur sehr geringe Zahlen vor, was die Vermutung nahelegt, dass sie unterschätzt werden. Schwierig wird es bei der Erhebung von Daten in Italien, Luxemburg, der Schweiz und Russland. Oft gibt es überhaupt keine offiziellen Statistiken, nicht einmal grobe Schätzungen.
Norwegen hat etwa 100 blinde und sehbehinderte Selbstständige angegeben. Hier liegt ein Sonderfall vor, da man die Möglichkeit hat, eine Art Rente durch eine selbstständige Tätigkeit zu ergänzen. Die Gesetzeslage dazu wurde erst kürzlich verbessert.
In Russland existieren zwar allgemeine Daten über die Beschäftigung Blinder und Sehbehinderter, es gibt aber leider im Bezug auf die Anzahl von Selbstständigen nur unzureichende Angaben.
Daher ist eine rein quantitative Auswertung der Daten Angesichts der erwähnten Schwierigkeiten eher in Form vom ungefähren Vergleichswerten (Benchmarking) und weniger im Direktvergleich allgemein vorhandener Strukturen oder Unterstützungssysteme möglich. Setzt man die verfügbare Gesamtanzahl blinder und sehbehinderter Menschen in Relation zu der gesamten Bevölkerungszahl der jeweiligen Länder, erhält man eine Zahl, die zwischen 0,02% und 0,00004% schwankt. Das bedeutet, dass der Prozentsatz erfasster Blinder und Sehbehinderter mit Selbstständigenstatus um den Faktor 500 variiert. Auch unter den nordischen Ländern mit Norwegen und Schweden auf der einen, und Finnland auf der anderen Seite, besteht eine Schwankung im Prozentsatz um den Faktor 20.
Erörterung der Ergebnisse
Die mit Abstand höchste Zahl blinder und sehbehinderter Selbstständiger wurde von Großbritannien und Finnland mit 0,01 und 0,02 angegeben. Folgende Besonderheiten lassen sich in beiden Ländern beobachten:
- Beide Länder haben recht aktuelle und breit angelegte Statistiken, was Blinde und Sehbehinderte betrifft.
- Sie bieten Beratungsdienste an, die sich mehr oder minder speziell mit Problemen und Bedenken Blinder und Sehbehinderter befassen, die als Selbstständige ein Unternehmen gründen wollen. So beschäftigt der Finnische Blindenverband beispielsweise einen Berater, der sich speziell um die Belange von Blinden und Sehbehinderten kümmert, die bereits selbstständig sind oder dies in Zukunft anstreben. Gleiches gilt für Großbritannien, wo sog. Self Employment Business Advisors (Unternehmensberater für Selbstständige) ähnliche Dienstleistungen anbieten.
- Beide Länder bieten finanzielle Unterstützung unterschiedlicher Art, um für Material oder eine persönliche Assistenz aufzukommen.
- Sie bieten denjenigen Selbstständigen finanzielle Unterstützung in Form von besonderen Zuwendungen, Steuersenkungen oder einer vorübergehenden Befreiung von Versicherungsbeiträgen, die ein eigenes Unternehmen gründen möchten.
Durch diese Unterstützung war es jährlich etwa zehn bis zwanzig Blinden und Sehbehinderten in Finnland möglich, sich als Unternehmer oder Selbstständige zu etablieren.
Bedingungen 3 und 4 werden zwar ebenfalls in Deutschland erfüllt, jedoch fehlt es gänzlich an den Bedingungen 1 und 2. Dänemark konnte alle oben erwähnten Bedingungen außer den speziellen Beratungsdiensten erfüllen.
Die Bedeutung eines besonderen Beratungsangebots oder einer besonderen Infrastruktur wird auch dadurch untermauert, dass in Deutschland über 1000 blinde und sehbehinderte Masseure und Physiotherapeuten erfasst sind. Darüber hinaus gibt es jedoch kaum Informationen über Blinde Unternehmer. Blinde und sehbehinderte Physiotherapeuten sind sehr gut organisiert und ihre unterschiedlichen Sektionen bieten Kollegen Unterstützung an, die sich selbstständig machen wollen. Der Finnische Blindenverband hat seinem Fragebogen eine Liste von über 50 Berufen beigefügt, die alle Bereiche umfasst, in denen Blinde und Sehbehinderte aktiv sind.
Dies gilt auch für Estland, das eine ähnliche Prozentangabe im Bezug auf Blinde und Sehbehinderte Unternehmer macht, die sich aber hauptsächlich auf Physiotherapeuten stützt. Obwohl sie angeben, dass es einen speziellen Beratungsdienst für Blinde und Sehbehinderte gibt, ist es schwierig herauszufinden, ob sich dieser Dienst auf besondere Bedürfnisse von Blinden und Sehbehinderten konzentriert (Bedingung 2). Außerdem sind die verfügbaren Daten nicht umfassend genug, um die Situation adäquat analysieren zu können (Bedingung 1).
In Norwegen scheint die Situation ein wenig anders zu sein. Hier wird angegeben, dass es landesweit fünf auf Behinderte spezialisierte Berater gibt, die sich selbstständig machen möchten. Diese Berater arbeiten wohl auch mit dem Blindenverband zusammen, es gibt jedoch keine Angaben über die Anzahl derer, die diesen Service jedes Jahr in Anspruch nehmen, wodurch einige Fragen bezüglich der Erfahrung auf diesem Gebiet offenbleiben. Norwegen ist insofern auch ein Sonderfall, als Blinde und Sehbehinderte erst vor Kurzem die Gelegenheit bekamen, als Physiotherapeuten und Psychologen ausgebildet zu werden.
Was die reinen Zahlen angeht, nimmt Bulgarien den Platz vor Norwegen, Deutschland und Dänemark mit einem Prozentsatz von 0,003% ein. Es sei ausdrücklich betont, dass die Daten in diesem Fall sehr zuverlässig sind und dass es kaum zusätzliche Unterstützung für Menschen mit Behinderungen, abgesehen von Steuersenkungen, gibt. Somit liegt Bulgarien, gemessen am Prozentsatz um den Faktor 10 bis 20, noch unter Finnland und Großbritannien.
Wenn man sich die Zahlen blinder und sehbehinderter Selbstständiger in Spanien ansieht, scheinen dort außergewöhnliche Bedingungen zu herrschen. Die Angaben aus dem Fragebogen ergeben einen Prozentsatz von 0,008%, der damit nur leicht unter dem von Finnland und Großbritannien liegt. Dies lässt sich jedoch wahrscheinlich durch die Existenz der ONCE erklären, aber es bedarf hier noch weiterer Untersuchungen.
Alle anderen Länder, die einen Prozentsatz von 0,0001% oder weniger für blinde und sehbehinderte Selbstständige angegeben haben, verfügen nicht über ausreichende Daten, sodass diese Zahlen nicht adäquat interpretiert warden können.
Zusammenfassung
Insgesamt haben 16 nationale Blinden- und Sehbehindertenorganisationen an der Umfrage zur Selbstständigkeit blinder und sehbehinderter Menschen in Europa teilgenommen. Davon konnten nur 8 Länder adäquate Daten liefern, wodurch eine erste Evaluierung und Interpretation möglich wurde. Die Ergebnisse lassen folgende Schlüsse zu:
- Zunächst brauchen blinde und sehbehinderte Menschen Zugang zu beruflicher Bildung. Der beste Weg zum Eintritt in die Selbstständigkeit scheint über die Ausbildung zum Physiotherapeuten oder Masseur möglich zu sein.
- Blinde und sehbehinderte Selbstständige sollten dieselben Zugangsmöglichkeiten zu Unterstützungsmaßnahmen wie ihre angestellten Pendants und deren Arbeitgeber, insbesondere im Hinblick auf persönliche Assistenz und weitere Unterstützung erhalten.
- Außerdem brauchen wir speziellere Unterstützungsmaßnahmen, die auf eine Unternehmensgründung zugeschnitten sind, um einem finanziellen Verlust entgegenzuwirken, Kredite, Steuersenkungen oder eine vorübergehende Befreiung bei der Zahlung von Versicherungsbeiträgen.
- Schließlich scheint ein weiterer wichtiger Faktor die bestehende Infrastruktur zu sein. Dies kann z. B. ein Netzwerk von anderen Selbstständigen sein, die einander beraten (Peer Counselling) oder Berufsberater, der das unternehmerische Fachwissen mit Wissen über die besonderen Bedürfnisse und Mechanismen verbindet, die es für behinderte Menschen gibt.
Anlage
Auswahl möglicher Berufe
- Masseur oder Physiotherapeut
- Klavierstimmer/-Bauer
- EDV-Trainer
- Berater zur Aufklärung von Belangen für Behinderte
- Musiklehrer
- Künstler (Maler, Bildhauer oder Fotograf)
- Musiker
- Anwalt
- Händler (auf verschiedenen Gebieten)
- Unternehmensberater
- Sicherheitstrainer (Finnland)
- Handwerker
- Psychotherapeut