Das föderalistische System in der Schweiz macht es notwendig, dass größere Gesetzesänderungen einen demokratischen Prozess durchlaufen, an dem nicht nur das Parlament, sondern alle wichtigen Akteure beteiligt sind, darunter Kantone, Parteien, Verbände und Interessengruppen. Dieser Wunsch nach Meinungen, Argumenten und breit gefächerten Alternativen verlangsamt den Gesetzänderungsprozess erheblich. Das gilt auch für das Urheberrecht.
2014 beschloss der Bundesrat, dass das schweizerische Urheberrechtsgesetz einer größeren Novellierung bedurfte, und wies das eidgenössische Institut für geistiges Eigentum an, einen entsprechenden Gesetzentwurf zur öffentlichen Konsultation bis Ende 2015 vorzulegen. Der wichtigste Grund für diese Entscheidung war, dass das schweizerische Urheberrechtsgesetz an das Internetzeitalter angepasst werden musste, um insbesondere ein härteres Durchgreifen gegen Internetpiraterie zu ermöglichen und sich besser auf viele technologische Entwicklungen einstellen zu können.
Die Schweiz unterzeichnete den Vertrag von Marrakesch am 28. Juni 2013. Die notwendigen Anpassungen bestehender Ausnahmen zum Urheberrecht waren in Bezug auf die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen als kleiner Abschnitt in dieser größeren Gesetzesänderung bereits enthalten. Das bedeutete aber, dass eine Ratifizierung des Marrakesch-Vertrags sich zeitlich dem umfangreichen Gesetzgebungsprozess unterordnen musste.
Die Konsultation wurde im Dezember 2015 eröffnet und dauerte bis Ende März 2016. Beinahe 1250 Kommentare im Umfang von etwa 8000 Seiten wurden eingereicht. Es gab nur wenige Gegenstimmen zu den vorgeschlagenen Änderungen der Ausnahmen zum Urheberrecht, aber die Meinungen zu vielen Teilen des strategischen Ansatzes beim gesamten Gesetzentwurf gingen weit auseinander.
Daraufhin wurde ein neuer “Kompromissentwurf” verfasst, bei dem die 8000 Seiten teils gegenläufiger Interessen der einzelnen Akteure berücksichtigt werden sollten. Im November vergangenen Jahres verabschiedete der Bundesrat diesen Gesetzentwurf und den Bericht an das Parlament. Laut zuständigem Bundesamt wird die Revision des Urheberrechtsgesetzes nicht vor Ende 2019 abgeschlossen sein.
Leider beinhaltet der Entwurf einen wichtigen, jedoch irreführenden Begriff: die Definition des Begünstigten. In der französischen Version spricht der Gesetzentwurf von “utilisation d’œuvres par des personnes atteintes de déficiences sensorielles”, was“Menschen mit sensorischen Beeinträchtigungen” heißt. In der italienischen und der maßgeblichen deutschen Version des Gesetzentwurfs ist die Formulierung ungenauer, wodurch man – die entsprechende Fantasie vorausgesetzt – eine“sensorische Wahrnehmung“ auch weiter gefasst so auslegen könnte, dass Schwierigkeiten beim Erreichen oder Begreifen des Buchinhalts bestehen. Es ist wichtig, festzuhalten, dass diese unglückliche Formulierung nicht Ausdruck einer politischen oder juristischen Absicht ist. Der erläuternde Bericht zum Gesetzentwurf ist in Bezug auf die Empfänger eindeutig. In diesem Bericht ist die Definition von Begünstigten (in allen Sprachen) weiter abgesteckt als die, die sich im Marrakesch-Vertrag selbst findet. Dieses weiter gefasste Verständnis des Begünstigten wurde ebenfalls durch das eidgenössische Institut für geistiges Eigentum bestätigt.
Was alle anderen Aspekte angeht, so deckt der Gesetzentwurf die Anforderungen des Marrakesch-Vertrags ab. Wie im eigentlichen Gesetz so werden Rechteinhaber und Verlage das Recht auf eine Vergütung haben: Vertrauenswürdige Vermittler aus der Schweiz werden immer noch eine moderate Abgabe an die Verwertungsgesellschaft für jede ausgegebene Kopie entrichten müssen. Diese Abgabe ist jedoch nur innerhalb der Schweiz fällig und hat auf den internationalen Austausch keinerlei Einfluss.
Alle die Schweiz umgebenden Länder sind Teil der Europäischen Union und werden somit die Anforderungen von Marrakesch bis September dieses Jahres erfüllen, während die Schweiz noch mindestens ein Jahr warten muss. Diese Verzögerung wird für schweizerische vertrauenswürdige Vermittler und ihre Kunden keine größeren negativen Konsequenzen bei der Arbeit und im Alltag haben: Aufgrund einer aktuellen Vereinbarung mit den Verwertungsgesellschaften unserer Nachbarländer, findet der Austausch zugänglicher Werke auf Deutsch, Französisch und Italienisch in der Praxis schon seit Jahren statt.
Dr. Flavia Kippele
Leiterin
Schweizerische Blindenbibliothek