Zunächst stellen sich die geladenen Gastorganisationen unseren Fragen, anschließend wird unsere Europaabgeordnete darauf antworten.
Wann ist Ihrer Organisation klar geworden, dass COVID eine große Herausforderung werden würde, und was war Ihre erste Reaktion?
EDF:
Das Europäische Behindertenforum hat die Geschehnisse rundum die Pandemie Mitte Februar verfolgt, insbesondere in Bezug auf unsere internen Funktionsabläufe. Wir hatten Anfang März eine Vorstandssitzung, und unser Vorsitzender hat vorher eine tägliche Risikobewertung vorgenommen, um sicherzustellen, dass wir sie auch abhalten konnten.
Wir haben dann in der zweiten Märzwoche damit begonnen, Antworten auf Fragen zu COVID-19 zu verfassen, da die meisten Europäischen Regierungen bereits Ausgangsbeschränkungen verhängt hatten. Am 13. März haben wir zunächst den “Offenen Brief an die politisch verantwortlichen der EU und der Nationalstaaten: COVID-19 – inklusiver Ansatz für Menschen mit Behinderungen” veröffentlicht. In derselben Woche haben wir auch Antworten der Länder gesammelt und geteilt und den Mitgliedern dabei geholfen, antworten auf spezifische Fragen zu sammeln.
WBU:
(Zu Ihrer Information: Die Hauptgeschäftsstelle der WBU befindet sich in Kanada). Anfang März wurden wir durch die Massenmedien, die Leitung des CNIB (unsere Gastgeberorganisation) und Onlinequellen darauf aufmerksam. Seit Mitte März war uns jedoch klar, dass wir vor einer Herausforderung stehen würden, als nämlich die Regierung den Notstand ausrief und einen Lockdown sowie strikte Sicherheitsmaßnahmen, einschließlich körperlicher und sozialer Abstandsregelungen, Isolation und Selbstquarantäne anordnete. Nicht lebensnotwendige Geschäfte und Schulen wurden ebenfalls geschlossen. Unser Büro wurde zum Schutz und zur Gesundheit unserer Angestellten geschlossen, und wir haben das Arbeiten im Homeoffice eingeführt.
IAPD
Anfang Mai, als die Reisen zu sämtlichen Aktivitäten des IAPB in Europa in Frage gestellt wurden. Erst wurden die Vorbereitungen gestoppt und dann sämtliche Sitzungsaktivitäten verschoben, als die Situation schlimmer wurde.
EUD
Da die EUD eine in Brüssel ansässige Organisation ist, wurden wir auf covid-19 und die Eindämmungsversuche aufmerksam, nachdem die belgische Regierung ihre Pläne zu Ausgangsbeschränkungen und Quarantänemaßnahmen Mitte März offiziell bekannt gegeben hatte.
Wir haben besonnen reagiert, da die Angestellten der EUD ohnehin von zu Hause aus arbeiten dürfen. So haben wir uns dazu entschlossen, uns komplett auf Telearbeit umzustellen, weiterzumachen wie bisher, die Anordnungen der belgischen Regierung zu befolgen und uns diesbezüglich anzupassen.
Welche Informationsquellen waren für Sie am zuverlässigsten, und nach welchen haben Sie Ihre Arbeit ausgerichtet?
EDF:
Wir haben uns hauptsächlich auf zwei Arten von Quellen verlassen: offizielle Quellen wie etwa die Weltgesundheitsorganisation sowie belgische Regierungsrichtlinien für innere Angelegenheiten.
Was die Politik angeht, so verlassen wir uns hauptsächlich auf unsere nationalen und Europäischen Mitglieder sowie unser Mitglieder- und Partnernetzwerk, darunter die International Disability Alliance.
WBU:
Der Führungsstab des CNIB, hohe Regierungsvertreter wie den kanadischen Premierminister und Mitarbeiter des Gesundheitsamtes.
IAPB
WHO, IAPB, AAO, Regierungsquellen, Nachrichtenagenturen.
EUD
Offizielle Ankündigungen der belgischen Regierung sowie Richtlinien zu Telearbeit und allgemeine Sicherheitsmaßnahmen.
Wie hat die Krise Ihre tägliche Arbeit beeinflusst. Konnte Telearbeit erfolgreich eingerichtet werden, konnte die Infrastruktur angepasst werden, fühlten sich Ihre Angestellten und/oder Mitglieder geschützt und auch in der Lage, mitzuarbeiten?
EDF:
Was den Übergang zu Telearbeit angeht, war das Europäische Behindertenforum gut auf die tägliche Arbeit vorbereitet. Einige unserer Angestellten waren schon vor der Pandemie in Telearbeit, sodass wir bereits über virtuelle Strukturen verfügten, über die wir unsere täglichen Arbeitsabläufe anpassen konnten. Auch hatten wir schon vorher Webinare geplant und daher war die Zugänglichkeit bereits sichergestellt, jedoch war die Umstellung unserer Sitzungen und Aktivitäten auf Onlineangebote eine große Herausforderung, der sich unsere Kolleginnen Raquel, Catherine, Loredana und Muriel erfolgreich gestellt haben.
Die zwei größten Herausforderungen waren:
- Wie gesagt, die Umstellung vieler unserer Präsenzsitzungen auf Onlinesitzungen: Obwohl wir über gutes Vorwissen verfügten, waren wir durch den Mangel an Präsenzsitzungen dazu gezwungen, alles auf Onlineangebote umzustellen, einschließlich satzungsmäßig vorgeschriebener Sitzungen. Dies erforderte wichtige rechtliche und logistische Vorarbeit, um zu gewährleisten, dass wir unterschiedliche Formate für Onlinesitzungen und Webinare haben konnten und sie trotzdem gültig sein würden.
- Das höhere Arbeitspensum aufgrund der Pandemie: Nach einer anfänglichen Pause haben die EU-Institutionen einige ihrer Aktivitäten wiederaufgenommen – das bedeutet, dass wir uns mit der Arbeit bezüglich COVID-19 und der Arbeit bezüglich politischer Maßnahmen befassen müssen, etwa die Vorbereitung von Konsultationen, dem Access City Award, usw. Das hat zu einem erheblich höheren Arbeitspensum geführt. Wir rechnen für die zweite Jahreshälfte mit einem noch größeren Arbeitspensum: Wir gehen davon aus, dass die EU-Institutionen sämtliche für 2020 geplanten Arbeiten nicht verschieben und sich mit dieser Pandemie innerhalb ihres regulären Arbeitspensums beschäftigen werden, indem sie einfach die Leistung und die Anforderungen für die zweite Jahreshälfte erhöhen.
WBU:
Abgesehen vom persönlichen Kontakt und Teamgeist geht unsere tägliche Arbeit weiter. Unsere Büroinfrastruktur ist gut aufgestellt, Telearbeit funktioniert reibungslos, und wir bleiben als Angestellte virtuell miteinander verbunden. Wir fühlen uns ausreichend geschützt, sicher, gesund und können effizient mitarbeiten.
IAPB
Alle Aktivitäten finden online vom Homeoffice aus statt, die Kommunikation erfolgt elektronisch (E-Mail, Telefon, zoom).
EUD
Wir konnten uns relativ einfach umstellen, da wir unsere Arbeit auf unseren Arbeitslaptops, die wir nach Hause mitnehmen können, und per E-Mail erledigen. Wir haben auch einen gemeinsamen Dropbox-Ordner, der alle Dateien der EUD beinhaltet, die bei der Arbeit von zu Hause aus nützlich sein können. Gebärdensprachdolmetscher können auch ganz einfach mittels Videoplattformen arbeiten, z. B. Skype, Zoom, SignLive.
Wir haben auch weiterhin Wöchentliche Teamsitzungen und Sitzungen zu Fragen über politische Maßnahmen sowie Einzelsitzungen per Zoom oder WhatsApp-Videoanruf.
Die Angestellten fühlen sich beim Arbeiten von zu Hause sicher, da sie keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen oder Leute treffen müssen, die sie infizieren könnten.
Wie haben Regierungen und andere internationale Bezugsorganisationen Ihrer Meinung nach allgemein reagiert? Waren sie bereit, sich die Bedenken behinderter anzuhören?
EDF:
Nein, leider nicht. Über die Reaktionen der meisten Regierungen sind wir schwer enttäuscht: zu lange wurden Menschen mit Behinderungen ohne zugängliche Informationen im Stich gelassen, Ängste vor einer niedrigen Priorisierung beim Zugang zu Gesundheitsfürsorge haben sich bewahrheitet, die Regierungen haben Ausgangsbeschränkungen verhängt, die viele Menschen mit Behinderungen unmöglich befolgen konnten, und wieder einmal wurden Menschen in Wohnheimen völlig vergessen –schlimmer noch: die Regierungen haben Maßnahmen verhängt, durch die die Bewohner in ihren Zimmern eingesperrt waren, vollständig isoliert und ohne Kontakt zu anderen Menschen.
Von diesen Reaktionen sind wir schwer enttäuscht, die eine mangelnde Priorisierung und Diskriminierung erkennen lassen, der Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind.
Es gab in den vergangenen Wochen einige kleine ermutigende Worte, jedoch müssen die Regierungen auf uns zugehen und Behindertenorganisationen systematisch in für COVID-19 geschaffene Arbeitsgruppen und Gremien einbeziehen.
WBU:
Die kanadische Regierung hat prompt reagiert und sofort Maßnahmen zur Unterstützung von kanadischen Bürgern ergriffen. Menschen in COVID-Hotspots wurden evakuiert, einige Hilfsprogramme und Dienstleistungen umgesetzt, einschließlich finanzieller Erleichterungen für Beschäftigte, die ihren Arbeitsplatz verloren hatten, Stipendien für Studenten und Hilfen für Unternehmen.
In Bezug auf Menschen mit Behinderungen hat die Regierung ein COVID-19 Beratungsgremium für Behinderte ins Leben gerufen, das aus Experten im Bereich Inklusion von Menschen mit Behinderungen besteht. Ziel dieses Gremiums ist es, in Bezug auf lebensnahe Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen, behindertenspezifische Probleme, systembedingte Lücken, Maßnahmen und zu unternehmende Schritte während dieser Krise beratend zur Seite zu stehen. Dieses Gremium konzentriert sich auf behindertenspezifische Themen wie den Gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsfürsorge und Unterstützung, Zugang zu Informationen und Kommunikation, geistige Gesundheit und soziale Isolation sowie Unterstützung bei Beschäftigung und Einkommen.
Die kanadische Regierung hat von Anfang an gewährleistet, dass die Interessen und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden, jedoch gibt es einige Probleme, wie etwa zugängliche Informationen und Ressourcen.
EUD
Seit Beginn der Pandemie bestand die Priorität von EUD darin, zu gewährleisten, dass gehörlose Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu Informationen durch die nationalen Gebärdensprachen hatten. Daher hat die EUD Informationen der nationalen Gehörlosenverbände innerhalb der Europäischen Union, Island, Norwegen, der Schweiz und Großbritannien über die Zugänglichkeit von Informationen zu COVID-19 und dessen Eindämmungsversuchen in den jeweiligen Gebärdensprachen gesammelt.
Die EUD hat dabei betont, dass die Regierungen im Rahmen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNBRK) sowohl auf nationaler als auch Europäischer Ebene dazu verpflichtet sind, einen vollumfänglichen Zugang zu Informationen für alle zu gewährleisten (siehe Artikel 9 und 21 der UNBRK).
Auf der Webseite der EUD können Sie jetzt sehen, dass die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten und auch diejenigen in anderen Ländern die Verpflichtungen im Rahmen der UNBRK respektieren und sehr darum bemüht sind zu gewährleisten, dass Informationen zur Eindämmung von COVID-19 auch in den nationalen Gebärdensprachen vorliegen.
Die EUD hat auch betont, dass die Europäische Kommission, dem positiven Beispiel der nationalen Regierungen folgend, auf Europäischer Ebene denselben Grad an Zugänglichkeit zu Informationen über Notfallmaßnahmen zu COVID-19 in internationaler Gebärdensprache gewährleisten sollte. Wir sind hocherfreut darüber, dass die EU-Kommission unseren Forderungen Gehör geschenkt und die von der Kommissionspräsidentin Frau von der Leyen produzierten Videoinhalte in internationaler Gebärdensprache zur Verfügung gestellt hat.
Nur durch Informationen in den nationalen Gebärdensprachen auf nationaler und internationaler Gebärdensprache auf Europäischer Ebene, können gehörlose Menschen in dieser schwierigen Zeit einen gleichberechtigten, vollumfänglichen und sinnvollen Zugang zu Informationen erlangen.
Gibt es Beispiele für besonders gute oder schlechte Praktiken, von denen Sie uns berichten möchten, damit wir alle aus dieser noch nie dagewesenen Erfahrung Lernen können?
EDF:
Sie können viele Informationen zu guten und schlechten Praktiken in unserer Ressourcenliste finden.
Es gibt viele gute Praktiken, wovon die meisten von Behindertenorganisationen stammen. So haben spanische Organisationen beispielsweise Freiwilligengruppen ins Leben gerufen, um behinderte Menschen zu unterstützen.
Dort, wo Pressekonferenzen der Regierungen und als Reaktion auf die Krise ohne Verdolmetschung in Gebärdensprache übertragen wurden, wurden Organisationen für Gehörlose mobilisiert und haben sich bei vielen Regierungen erfolgreich dafür eingesetzt, dass diese zur Verfügung gestellt wurde.
Organisationen autistischer Menschen haben bei den Medien erfolgreich Druck dafür gemacht, dass die Ausgangsbeschränkungen gelockert wurden.
Eine Behindertenorganisation in Südfrankreich hat eine Hotline für behinderte Studenten geschaltet, die rund um die Uhr besetzt ist.
Zwei gute Praxisbeispiele kommen von den Regierungen in Italien, wo ein Behinderter als Experte für Behindertenfragen in ihre Arbeitsgruppe berufen wurde, damit Beschränkungsmaßnahmen gelockert werden konnten, und aus Dänemark, wo eine große Geldsumme für Behindertenorganisationen zur Verfügung gestellt wurde, damit Maßnahmen zur Bekämpfung von Isolation ergriffen werden können.
Die meisten dieser Beispiele kamen jedoch nur deswegen zustande, weil die Regierungen sich einen Schnitzer geleistet haben. Schlechte Praktiken waren daher weit verbreitet: Die Ablehnung, etische Richtlinien über den Zugang zu Behandlungsmaßnahmen einzuführen, unzugängliche Kommunikation, das Wegsperren von Menschen in Wohnheimen, keine Bereitstellung von Schutzausrüstung, keine hinreichende Finanzierung von Dienstleistungen für behinderte Menschen. Es gab viele und andauernde Fehler, die die Rechte von Menschen mit Behinderungen verletzt haben.
WBU:
Gute Praktiken: a) Die WBU hat ein Projekt zur Interessenvertretung für COVID-19 als inklusive Reaktion ins Leben gerufen. Dies beinhaltet unter anderem: Livediskussionen in den sozialen Medien, Handlungsaufrufe an die Regierungen, bei der Eindämmung mit Inklusiven Maßnahmen zu arbeiten, regelmäßige Neuigkeiten für unsere Mitglieder per E-Mail sowie eine detaillierte Umfrage, um die speziellen Bedürfnisse und Herausforderungen unserer Gemeinschaft besser zu verstehen. b) Das Befolgen von Empfehlungen der Gesundheitsexperten hier in Kanada scheint das Fortschreiten der Pandemie zu verlangsamen (soziale Abstandsregeln, Isolation, das Tragen von Schutzkleidung zusätzlich zu gut koordinierten und kontinuierlichen Ankündigungen der Regierung, Information und Kommunikation. c) Regelmäßige Neuigkeiten unserer Leitung halten uns auf dem Laufenden und dies stärkt die Sicherheit der Angestellten.
Schlechte Praktiken: a) Mangel an zugänglichen Informationen und einigen Diensten für unsere Blinden Mitglieder.
EUD
Wir sehen die Anstrengungen aller Regierungen innerhalb der EU, Informationen in den nationalen Gebärdensprachen verfügbar zu machen, als positive Entwicklung an, da dadurch im Allgemeinen das Wissen der Regierungen darüber, wie wichtig der Zugang zu Informationen in den nationalen Gebärdensprachen für gehörlose Europäer ist, verbessert wurde.
Da die Anfänglichen Ausgangsbeschränkungen in vielen Ländern nach und nach aufgehoben werden, was sind die Herausforderungen bei einer phasenweisen Öffnung in einigen Bereichen der Gesellschaft?
EDF:
Wir sehen über die kommenden Monate einige Herausforderungen auf uns zukommen, und sie werden alle davon abhängen, wie die Regierungen Ausgangsbeschränkungen auferlegen.
Davon ist die Wichtigste zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen vollumfänglich einbezogen werden. Je nachdem, wie die Regierungen handeln, wird es praktische Herausforderungen geben, die wir nicht vorhersehen können, und da kann nur eine vollumfängliche Einbeziehung hilfreich sein.
So haben wir beispielsweise mitbekommen, dass die Stadt Löwen, eine Stadt in Belgien, “Einbahnstraßen für Fußgänger” einführen will, um die Anzahl an aneinander vorbeigehenden Menschen möglichst gering zu halten. Dies geschieht ohne zugängliche Signale und wird für Blinde und Sehbehinderte Menschen ein Albtraum werden. Durch das Öffnen von Geschäften unter Einhaltung von Abstandsregelungen, sind wir auch besorgt darüber, was das für Menschen mit Behinderungen bedeutet, die diese nicht sicher befolgen können.
Darüber hinaus gibt es noch weitere Herausforderungen:
Wir müssen wachsam sein und gewährleisten, dass diese Zeit nicht zu einer noch größeren Abspaltung von Menschen mit Behinderungen führt: Die Regierungen dürfen sie nicht länger isolieren als die Durchschnittsbevölkerung.
Auch müssen wir uns für mehr Finanzmittel für Behindertenorganisationen und Unterstützungsleistungen einsetzen. COVID-19 und die damit einhergehende Wirtschaftskrise stellen ein großes Risiko dar, und viele Organisationen und Dienstleistungen sind von Schließungen bedroht.
Wir müssen mit mehr Nachdruck darauf bestehen, dass Wohnheime und andere Einrichtungen gestoppt werden, wo behinderte Menschen ihrer Freiheit beraubt werden. In Zeiten von COVID-19 sind sie regelrechte Todesfallen. Sie geöffnet zu lassen ist unmenschlich.
Wir müssen weiterhin für den Zugang zu Informationen kämpfen: Die kommenden Monate werden voller Unsicherheiten stecken, und wie wir in einigen Ländern bereits gesehen haben, sind Ausstiegspläne keineswegs in Stein gemeißelt, ein Zurückrudern ist jederzeit möglich. Behinderte Menschen brauchen Zugang zu diesen Informationen.
Wir müssen uns besonders auf Bildungs- und Beschäftigungsszenarien konzentrieren. Da Studenten und Arbeitnehmer wieder in ihre Räumlichkeiten zurückkehren, müssen wir gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen nicht im Stich gelassen werden.
Schließlich müssen wir uns ernsthaft für Unterstützung in der Bevorstehenden Wirtschaftskrise einsetzen und diesem Punkt unsere Beachtung schenken. Menschen mit Behinderungen leben bereits in unverhältnismäßiger Armut, die nächste Krise kann eine echte humanitäre Krise für behinderte Menschen in Europa auslösen.
Auch ist die bevorstehende Krise bei der Finanzierung von Behindertenorganisationen und für die Zivilgesellschaft im Allgemeinen besorgniserregend. Wir hoffen, dass die Regierungen Finanzmittel nicht kürzen, was einige jedoch als wahrscheinlichen Weg einschlagen werden.
Eine weitere Herausforderung besteht schließlich darin, dass die Regierungen Menschenrechte, Bewegungsfreiheit und das Recht auf Privatsphäre einschränken. Es ist wahrscheinlich, dass die Regierungen unverhältnismäßige Maßnahmen ergreifen, die unsere Rechte verletzen und unsere Freiheit wie auch unsere Arbeit einschränken.
WBU:
a) Unsicherheiten und die Angst vor einem weiteren sprunghaften Infektionsanstieg. b) Keine geeigneten und effizienten Strategien zur Einhaltung und Überwachung der Empfehlungen von Gesundheitsexperten, darunter Abstandsregelungen und das Tragen von Schutzkleidung nach der Öffnung von Geschäften. c) Das Risiko erhöhter Infektionen und Todesfälle d) Nicht genügend Daten e) noch nie dagewesener Übergang zu einer "neuen Normalität".
EUD
Von unseren Mitgliedern wissen wir, dass das zwangsweise Tragen von Masken für gehörlose Menschen eine Herausforderung darstellen kann, da dadurch das Lippenlesen verhindert und einige für die Gebärdensprache wichtigen Elemente verborgen werden – Mimik.
Welche Lektionen können wir für die Zukunft aus der Art und Weise lernen, in der innerhalb und außerhalb Ihrer Organisation mit dieser Situation umgegangen wurde?
EDF:
klar ist, dass wir noch immer kein Teil des Systems sind. Klar ist, dass dadurch, dass wir nicht einbezogen wurden, bei behinderten Menschen viele Todesfälle, Schmerz und Leid verursacht wurden.
Diese Situation hat die noch immer vorherrschende Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen und deren Auswirkungen auf uns herausgestellt. Die Regierungen müssen uns systematisch um Rat fragen.
Wir müssen in den folgenden Monaten ganz besonders einbezogen werden, um zu gewährleisten, dass die Rechte von Menschen mit Behinderungen und ihrer Organisationen gewahrt werden und sie über die Notwendigen Ressourcen dazu verfügen.
WBU:
Eine gut koordinierte, schnelle inklusionsgesteuerte Reaktion und Strategien für eine effiziente Katastrophenvorsorge müssen in allen Bereichen und zu jeder Zeit zur Verfügung stehen. Zugängliche, inklusive Informationen, Ressourcen und Dienstleistungen zur Katastrophenfürsorge sind äußerst wichtig.
EUD
Die wichtigste Lektion für Regierungen wäre, dass der Zugang zu Informationen mittels nationaler Gebärdensprache für gehörlose Menschen lebensnotwendig ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass Informationen lediglich im Notfall zugänglich sein sollten. Das gilt für sämtliche allgemeinen Informationen.
Gibt es Werkzeuge, Methoden, Netzwerke, usw., die man einführen könnte, um zu gewährleisten, dass man zukünftigen Krisen bestmöglich begegnet?
EDF:
Die vollumfängliche Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist äußerst wichtig. Dies beinhaltet natürlich, dass man Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen bei Krisenreaktionen in den Mittelpunkt stellt. Wir müssen bei Ausschüssen, Arbeitsgruppen und Gremien einbezogen werden. Behindertenorganisationen müssen finanziell unterstützt werden, damit sie die nötigen Ressourcen haben, um aktiv an diesen Gremien teilhaben zu können.
Es gibt bereits bestimmte behindertenspezifische Netzwerke, die sich mit Katastrophenfürsorge befassen. Wir müssen sie stärken, aber vor allem müssen wir gewährleisten, dass sie mit den Hauptakteuren vernetzt sind.
WBU:
a) Es müssen effektive Systeme zur Katastrophenfürsorge sowie Überwachungs- und Lösungsmechanismen für derartige Pandemien umgesetzt werden. b) Die Regierungen müssen gewährleisten, dass im Falle von derartigen Krisen inklusiv darauf reagiert wird c) Organisationen müssen Maßnahmen zur Katastrophenvorsorge entwickeln und umsetzen d) Es müssen spezielle regierungs- und organisationsübergreifende Netzwerke sowie Rahmenbedingungen geschaffen werden, um zukünftigen Krisen zu begegnen e) andauernde und inklusive Sensibilisierungsmaßnahmen und Informationsstrategien
EUD
Eine konstante und sinnvolle Einbeziehung von Vertreterorganisationen sämtlicher Behinderungen beim Entscheidungsfindungsprozess ist unabdingbar!
Gibt es noch weitere Bemerkungen/Ideen, die Sie uns gerne Mitteilen möchten?
WBU:
a) Authentische Informationsquellen sind in Krisenzeiten äußerst wichtig, b) Zugängliche und inklusive Strategien und Kriseninterventionen müssen jederzeit berücksichtigt werden c) eine korrekte Datenerhebung
IAPB
Bildungseinrichtungen haben mit Onlineunterricht aus der Ferne begonnen, als die Regierung den Unterricht vor Ort durch die Schließung sämtlicher Schulen, Fachhochschulen und Universitäten ausgesetzt hatte. Der Übergang zum Onlineunterricht war eine zentrale Anordnung des zuständigen Ministeriums. Die zentralen regionalen Bildungsbehörden haben die grundlegenden Richtlinien erarbeitet, und die Schulen haben darauf aufbauend ihre eigenen entwickelt.
- Dieser Übergang (einschließlich Unterrichten/Lernen und Prüfungen) lief an den Universitäten und Fachhochschulen, wo Rehabilitation und Sehresttraining vermittelt wird, bedingt durch ihre gute Infrastruktur reibungslos ab.
- An Schulen für Blinde und Sehbehinderte wurde ebenfalls Onlineunterricht eingeführt, wobei, je nach den zu Hause gegebenen Möglichkeiten, unterschiedliche Mittel zum Einsatz kamen: PCs, Messenger, Viber, Skype, per Telefon oder Post (Versand von Lernmaterial). In einigen kleinen Dörfern müssen die Schüler Lokale Bibliotheken oder das Büro des Bürgermeisters aufsuchen, da dies die einzigen Orte sind, die über einen Internetanschluss verfügen. Schwieriger ist es, mehrfachbehinderte Kinder zu unterrichten, da die Möglichkeiten der Onlinekommunikation für sie stark eingeschränkt sind. In solchen Fällen versuchen die Schulen, die Familien zu unterstützen.
Einige Schulen haben Laptops, Seh- / und elektronische Hilfen für Kinder gemietet, wenn Familien darum gebeten hatten. Neben digitalem Onlineunterricht hat eine Schule ein Blog mit Tipps für Eltern gestartet, wie sie ihre Kinder zu Hause unterstützen können, und dazu gibt es noch ein Bibliotheksblog.
Die Rehabilitationszentren haben den Unterricht für ihre Bewohner weitergeführt. Jedoch musste der Rehabilitationsunterricht außerhalb (zu Hause oder durch einen täglichen Besuch im Zentrum) ausgesetzt werden, um die Sicherheit von Bewohnern und Angestellten gewährleisten zu können. Manche Unterrichtsangebote sind dennoch online per Computer möglich. Einige Zentren rufen ihre Klienten zu Hause an.
Die nationalen und regionalen Blinden- und Sehbehindertenorganisationen lassen die meisten Angestellten im Homeoffice arbeiten, einige von ihnen arbeiten jedoch an ihrem ursprünglichen Arbeitsplatz, damit der Service aufrechterhalten werden kann.
Sie beobachten die Gesetzesänderungen kontinuierlich und richten ihre Arbeit danach aus. Sie stehen in direktem Kontakt zum Ministerium und dem Kabinett. Sie informieren ihre Mitglieder per Newsletter und auf ihrer Facebook-Seite.
Eine NGO hat sich folgendermaßen auf die neue COVID-Situation eingestellt: das Programm für Sehtests wurde eingestellt und neue Aktionen ins Leben gerufen: Spenden (Gesichtsmasken, medizinische Ausrüstung, Lebensmittelpakete, Laptops) wurden für Krankenhäuser und bedürftige Familien gesammelt. Auch wurde zu Blutspenden aufgerufen und diese von der Organisation durchgeführt.
EUD
Siehe unsere Webseite für Informationen zu Verschiedenen Situationen auf nationaler Ebene.
Fragen an die Europaabgeordnete Katrin Langensiepen
1. Es wurde unabhängig von den Bedenken Behinderter ganz allgemein oft Kritik auf nationaler Ebene laut, die EU habe es versäumt, in Bezug auf die COVID-19-Pandemie mit einer gemeinsamen Antwort angemessen zu reagieren. Glauben Sie, dass diese Kritik berechtigt ist?
die COVID-19-Pandemie hat definitiv gezeigt, dass die EU völlig unvorbereitet und derartigen Krisen gegenüber noch nicht gewappnet war. Die erste Reaktion der Mitgliedstaaten war es, in nationales Krisenmanagement zurückzufallen. Die Landesgrenzen wurden nach und nach geschlossen, und wir haben eine EU-weite Koordinierung hinsichtlich des Shutdowns von Wirtschaft und Gesellschaft versäumt.
Es ist sehr bedauerlich, dass es keine Solidarität unter den Mitgliedstaaten in der Anfangsphase gab, als das Gesundheitssystem Italiens überlastet wurde.
Dennoch hat die EU die Kontrolle beim Krisenmanagement wiedererlangt. Die Kommission hat große Finanzpakete vorgeschlagen, um die sozioökonomischen Ausfälle der Mitgliedstaaten möglichst gering zu halten und in die Impfstoffforschung zu investieren. EU-Fonds wie der Europäische Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten (FEAD) wurden umgewandelt, um flexible und unbürokratische Hilfen vor Ort zu ermöglichen. Zudem haben sich einige Mitgliedstaaten wie Polen, Rumänien und Deutschland auch solidarisch gezeigt, indem sie medizinische Ausrüstung bereitgestellt und Patienten aus Italien und Frankreich in ihren Krankenhäusern aufgenommen haben.
Was die EU jetzt tun muss ist, aus dieser Krise zu lernen und sich auf die nächste vorzubereiten. Wir von den Grünen/EFA haben einen Erholungs- und Nachhaltigkeitsplan ausgearbeitet, ein Investitions- und Reformpaket, bei dem es um robuste, nachhaltige und faire Reaktionen auf die Krise geht. Was zukünftige Pandemien angeht, so brauchen wir mehr Zusammenarbeit, einen besseren Datenaustausch über Lagerbestände von Medikamenten, die Verfügbarkeit von Intensivbetten und Medizinischen Geräten, mehr Investitionen in eine EU-weite Produktion von medizinischer Ausrüstung sowie einen EU-weiten Katastrophenschutzplan.
2. Wie schätzen Sie das bisherige Krisenmanagement der EU im Hinblick auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ein? Was sind die hauptsächlichen Fehler, die Sie als Mitglied der Intergruppe Behinderung ausmachen konnten?
Menschen mit Behinderungen wurden von der Pandemie unverhältnismäßig schwer getroffen. Sie wurden in dieser Krise aber auch unverhältnismäßig stark im Stich gelassen. Berichte über Menschenrechtsverletzungen an Menschen mit Behinderungen sind besorgniserregend. Einrichtungen wurden ohne ausreichende medizinische Ausrüstung und Hilfen im Stich gelassen, wichtige Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen wurden gekürzt, und in einigen Mitgliedstaaten sogar das Recht zu leben in Krankenhäusern in Frage gestellt, als Triage-Richtlinien festgelegt wurden.
Für mich bestand der größte Fehler der Mitgliedstaaten darin, dass Menschen mit Behinderungen beim Krisenmanagement nicht einbezogen wurden. Hätten sie dies getan, wären die Dinge anders verlaufen. Als einzige Europaabgeordnete mit einer sichtbaren Behinderung weiß ich, wie unterrepräsentiert Menschen mit Behinderungen in der Politik sind, was definitiv ein Problem darstellt.
Seit dem Lockdown arbeite ich in Deutschland im Homeoffice und engagiere mich gemeinsam mit anderen Aktivisten sehr für den Schutz von Risikogruppen, was auch Menschen mit Vorerkrankungen und Menschen mit Behinderungen einschließt. Während der Webinare, die ich organisiert habe, haben viele Behinderte ihre Bedenken darüber geäußert, dass sie isoliert sind und als Risikogruppen stigmatisiert werden. Auch fürchten sich Risikogruppen jetzt nach dem Lockdown davor, aus dem Arbeits- und Sozialleben ausgeschlossen zu werden. Daher brauchen wir spezielle Aktionspläne, um ihnen nach dem Lockdown helfen zu können.
Triage ist auch so ein Thema, über das sich Menschen mit Behinderungen sehr besorgt gezeigt haben. In Deutschland ist die Lage in den Krankenhäusern sehr gut. Dennoch haben Berufsverbände für Notfallmedizin Triage-Empfehlungen veröffentlicht, die Menschen mit Behinderungen indirekt diskriminieren, indem sie Faktoren wie Gebrechlichkeit in die Beurteilung einfließen lassen. Das ist nicht hinnehmbar und etwas, vor dem die Mitgliedstaaten und die EU ihre Augen keineswegs verschließen sollten.
3. Welche Lektionen können wir für die unmittelbare Zukunft lernen? Was sind Ihre Erwartungen an die EU, insbesondere an das EU-Parlament?
Das Parlament und die weiteren EU-Institutionen müssen an zweierlei Dingen arbeiten:
Erstens müssen wir sämtliche Verletzungen aufdecken und verfolgen, die während Covid-19 aufgetreten sind. Indem wir beispielsweise die Kommission um einen Sonderbericht über die Verletzungen der UNBRK während der Pandemie bitten.
Zweitens müssen wir unsere Arbeit an der Umsetzung der UNBRK fortsetzen.
Die Pandemie hat lediglich die unterschiedlichen Bereiche hervorgehoben, in denen eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen weiterhin besteht: Institutionalisierung, der Mangel an Zugänglichkeit in Krankenhäusern, Informations- und Verkehrsdiensten, unterfinanzierte Pflegedienste… All diese Probleme gab es bereits vor der Pandemie, und sie hatten im vergangenen Monat schreckliche Folgen. Wir müssen mehr denn je für die Umsetzung unserer Rechte kämpfen. Dafür muss die Kommission eine starke EU-weite Behindertenstrategie für die Zeit nach 2020 vorlegen, die auch Erfahrungen aus der Pandemie beinhaltet. Die EU braucht einen EU-Katastrophenschutzplan, der automatisch ein Krisenberatungsteam mit Vertretern von Menschen mit Behinderungen beinhaltet.
Auch müssen wir bei der Kommission darauf drängen, endlich ein neues Antidiskriminierungsgesetz vorzulegen.